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Wie viel von dem Teil der Geschichte, welche folgt, belegt ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Sie wurde mir in Kindertagen erzählt. Da sie aber nicht an Gehalt vermissen lässt, erscheint mir die Suche nach Tatsachen wenig wichtig. Vieles erlangte durch sie genauere Bedeutung, Manches, was ich mir später nicht erklären konnte, zeigte durch das Wissen um ihren Inhalt Möglichkeiten auf und verhalf, Situationen besser zu verstehen. Auf jeden Fall aber brachte sie die Menschen und den Ursprung ihrer „Eigenschaften“ näher.
Wir gehen Hunderttausende von Jahren zurück. Lange, bevor Gott die Menschen auf die Erde schickte. Es war die Zeit, in der die Gefühle sich noch in ihrer Entwicklung befanden, noch nichts Geistiges waren. Sie bevölkerten die Welt. Gute und weniger gute, schlechte und weniger schlechte. Die Erde schaute dem Treiben zu, wissend, dass der Tag ihrer eigenen Erschaffung vieles nach sich ziehen würde, aber nie, dass Gefühle den Menschen irgendwann einmal Platz machen würden. Wohl oder übel müssten diese miteinander auskommen, würden sich vielleicht sogar gegenseitig brauchen. Ihre Frage an Gott, ob der Mensch es denn irgendwann einmal verstehen würde, warum er nicht allein auf der Erde sei, wurde dadurch beantwortet, dass er versicherte, keinen Menschen ohne eine Seele zu erschaffen. „Worin besteht dann meine Rolle?“, fragte die Erde. „Darin, dass du Urgrund bist, wo beide Teile zugleich beheimatet sein werden!“, antwortete Gott. „In welcher Form bin ich ihnen verbunden?“ fragte die Erde abermals, und Gott antwortete: „Du selbst bist ihr Ursprung, weil sie aus dir hervorgehen!“
Und so geschah es. Durch einen Bündel Energie aus dem Licht der Sterne, einem Tropfen Wasser aus den Quellen der Meere, einem Saatkorn Boden aus der Vielfalt der Natur und einer Brise Wind aus dem Hauch der Luft entstand all jenes, was der Begriff Eigenschaften beinhaltete. Erst sehr viel später sollten es diese zur Aufgabe haben, die Menschen in ihrer Vielschichtigkeit zu prägen. Es waren eine Unmenge einzelner Charaktere, die so zur Erde fanden. Männliche, weibliche und, wie schon erwähnt, darunter gute bis schlechte. Eines aber hatten alle gemein: sie waren zu etwas nutze, selbst wenn man dies auf Anhieb gar nicht so recht glauben mochte.
Da gab es beispielsweise den Frieden und die Eintracht. Kaum entstanden, hatten sich die beiden auch schon gefunden und gingen ihren Weg gemeinsam. Nur kurze Zeit nach diesem Entschluss wurde ihr erstes Kind, das Mitgefühl, geboren. Fast im gleichen Moment kamen aber auch die Zwietracht und der Streit zur Welt und deren erster Spross, das Missverständnis. Man sollte meinen, dass die Liebe und der Herzenswunsch Grund dafür gewesen sein mochten, dass sich alles so schnell entwickelte. Sie waren aber auch nur Eltern. Hatten sogar ein Kind, welches Feingefühl hieß. Es war, wie seine Eltern, von sanfter Natur, hatte aber nicht deren Kraft, und vermochte daher nur wenig gegen eventuelle Widersacher auszurichten. Der Zweifel und die Eifersucht waren im Grunde die größten Gegner aller Gefühle. Das Misstrauen, welches durch sie ins Leben fand, war im Grunde oft uneinig mit sich selbst. Zwar hatte es die Stärke von Mutter und Vater geerbt, verspürte allerdings von Anbeginn auch den Zwiespalt, aus dem es hervorgegangen war. So fragte es sich, ob nicht eventuell die direkten Nachbarn, welche Lust und Trieb hießen, dazu aufgefordert haben könnten, es zu zeugen. Wenn es in deren Garten schaute, wo Begehren und Erwartung miteinander spielten, erschien diese Sichtweise mehr als möglich. Seine Cousins, Bauchgefühl und Bewusstsein vermochten nur wenig gegen diese Denkweise auszurichten. Sie selbst und deren Eltern, namens Instinkt und Ahnung, wussten ebenfalls nicht so recht, woher sie eigentlich rührten. Mit der Tendenz nach rechts oder links suchte sich das Misstrauen auch seine Freunde aus und traf eines schönen Tages auf das Bedauern. Dieses war ein Kind der Traurigkeit, welche keine Zeit für die Aufzucht neuen Lebens gefunden hatte, weshalb es von Onkel und Tante, dem Neid und der Bitternis aufgenommen wurde, und hier Unterstützung in jeglichem negativen Tun erfuhr. So verwundert es nicht, dass es an dem Tag, als es auf das Misstrauen traf, Gefallen an ihm fand, und sich mit ihm austauschte. Als die Beiden feststellten, wie ähnlich sie sich im Grunde waren, schlossen sie Freundschaft und waren fortan unzertrennlich. Seltsamerweise erfuhren sie bei aller Ähnlichkeit im Wesen erstmals eine positive Wahrnehmung der Dinge um sie herum.
So geschah es, dass sie, durch ihre Ähnlichkeit ermutigt, gemeinsam beschlossen die Traurigkeit zu finden, um zu erfragen, wie sie als einzige der Gefühle es fertig gebracht hatte, ihr Kind zu verlassen. Auf ihrem Weg dorthin begegneten sie einem kinderlosen Paar namens Traum und Illusion, welche einen rechtschaffenen und zufriedenen Eindruck machten und ihnen selbst gegenüber so verschieden schienen. Sie fragten die Beiden, weshalb sie so glücklich wären, obschon allein. „Wir sind nicht allein!“, antworteten diese zugleich. „Aber ihr habt doch keine Kinder!“, entgegneten das Bedauern und das Misstrauen irritiert. „Seid ihr nicht alle unsere Kinder?“ sagte der Traum, und die Illusion fuhr fort: „Außerdem haben wir unsere besten Freunde, die uns dabei helfen, nicht undankbar zu werden. Ihr kennt sie noch nicht. Sie heißen Hoffnung und Demut.“ „Ja“, hob das Misstrauen an, „die haben aber Kinder?“ „Nein, sagte der Traum, aber aus ihnen geht alles hervor, weil ohne sie nichts machbar ist!“ Das Bedauern schwieg zum ersten Mal und blickte der Illusion hinterher, die lächelnd Richtung Himmel schaute. „Ist da etwas?“, fragte sie. „Ja!“ entgegnete jene. „Alles, weshalb wir hier sind. Die Antwort aller Fragen!“ Jetzt schauten auch Misstrauen und Traum zum Himmelszelt, welches sich teilte und eine Unzahl kleiner funkelnder Sterne sichtbar werden ließ. „Was ist daran besonders? Die sehe ich jede Nacht!“, entfuhr es dem Misstrauen. „Jeder Stern steht für unsere Bestimmung, und miteinander halten alle die Erde im Gleichgewicht!“, sagte der Traum. „Wir sind von so unendlicher Weite wie das Firmament. Das bezeigt, welche Möglichkeiten wir haben. Alles gab uns Gott, und wenn wir uns sein Geschenk zu Nutze machen, werden wir unvergänglich sein!“, antwortete die Illusion. Unwillkürlich erfuhr das Weltbild von Misstrauen und Bedauern eine Metamorphose. „Eine Frage noch!“, bettelte das Misstrauen. „Wo liegt die Wahrheit?“ „Irgendwo dazwischen!“, entgegnete der Traum lächelnd.
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