Spunni

Es ist der erste Winter, den ich wirklich erlebe und das schönste Weihnachtsfest meiner Kindheit, an das ich mich erinnern kann. Für beide Tatsachen mache ich das kleine Dorf im Saarland, den Geburtsort meiner Mutter, verantwortlich. Jeden Sommer verbringen meine Eltern, Geschwister und ich hier unsere Ferien bei meiner Tante, und obschon es immerhin drei Wochen sind, fällt der Abschied mit jedem Mal furchtbar schwer. Schließlich bedeutet dieser letzte Tag, dass wir ein Jahr warten müssen, bis ein neues Wiedersehen in Aussicht steht.

An den vorausgegangen Sommer kann ich mich nur bruchstückhaft erinnern. Jetzt aber ist es Winter. Dezember 1964. In drei Monaten werde ich vier Jahre alt.

Hauptbahnhof Düsseldorf. Mein Vater nimmt mich an die Hand. „Bleib stehen, Kerlchen! Der Zug fährt ein!" Mein Mund ist vor Staunen weit geöffnet. Mit einem kreischenden Geräusch nimmt die schwarz-rote Lok die letzten Meter bis zum Haltepunkt. Die Dächer der Waggons sind schneebedeckt. Mein Vater zieht mich weiter, denn die Türen haben sich zum Einstieg der Fahrgäste schon geöffnet. „Theo! Das ist unser Abteil." Mit einem Seufzer machen sich Mutti, sowie Tiddy und Gabi, meine beiden Schwestern, mein Vater und ich es uns in den Sitzen gemütlich. Dann ertönt der Pfiff des Schaffners. Die letzten Zugtüren knallen zu. Quietschende Gleise. Ein Aufheulen der Lokomotive. Regelmäßige Geräusche von Vorwärtsbewegung unter uns. Das Abenteuer Zugfahrt Düsseldorf/Merzig beginnt, und damit die Vorfreude auf Weihnachten.

Es ist bereits sehr spät, als wir Merzig erreichen. Der Rasierwasserduft meines Vaters dringt in meine Nase, in seine Halsbeuge vertieft, als er mich zur Taxe trägt. Starker Benzingeruch. Normalerweise wird mir schlecht davon. Jetzt nicht. Ich bin zu müde.

Türenknallen. Ein laufender Otto-Motor. Die Taxen haben alle so einen komischen Stern vorne drauf. Ich werde vom Sitz gezogen. Schade. Gerade eben fühlte sich das sonst so kalte Leder warm an. Die Gerüche wechseln. Eine sanfte Stimme wispert: „Liebchen!" Unverkennbar. Godi. Meine Ersatzmutti und liebste Tante

„Passt up, et is glatt!"

Knirschen, während sie mich durch die Dunkelheit trägt

Das Erste, was ich vernehme, ist der vertraute Geruch von Äpfeln. Noch etwas. Tannen. Das kenne ich sonst hier nicht. Oh ja! Morgen ist Heilig Abend.

Ich sehe mich im Zimmer um. Wo bin ich? Ein Schemen kommt durch die Dunkelheit auf mich zu. Ich schnuppere meine Tante. Bereitwillig lasse ich mich nach unten ins Wohnzimmer tragen.

Irgendwann wird gefrühstückt, zu Mittag gegessen. Dann der Mettengang. Es ist noch früh genug für mich, als wir zurückkommen, um auf bleiben zu dürfen. Schließlich wird zu Abend gegessen. Der Tannenbaum ist bunt, anders, als daheim. Schöner, lebendiger. Die verpackten Geschenke darunter habe ich längst entdeckt und verstehe nicht, warum ich für kurz die Augen schließen soll. Jetzt darf ich sie öffnen.

Auf dem Tisch vor mir erblicke ich ein paar neue rote Hausschuhe. In einem bewegt sich etwas kleines Schwarzes.

„Miaaauuu!"

Ein kleines Köpfchen lugt aus dem knöchelhohen Schaft.

„Für mich?" Meine Eltern schweigen. Der Blick geht in Richtung Tante.

„Du hast doch Katzen so gerne!"

Ob ich die mitnehmen darf?

„Sie wird jetzt immer hier sein, wenn du kommst!"

Wie oft hat man Ferien, wenn man in der Schule ist?

„Wie heißt sie denn?"

Meine Tante hat bestimmt eine Antwort.

„Spunni."

„Spunni?"

Sie schnurrt und reibt ihr Köpfchen an meiner Halsbeuge.

Wir waren unzertrennlich. Zwei Sommer lang. Den Letzten blieben wir länger als normal. Sie lief hinter der Taxe her und wurde nie mehr gesehen.

Aber ihr Geist lebt weiter. Jede Katze heißt seither für mich Spunni.