Fang dir einen Stern
Wir schreiben das Jahr 1969. In der Grundschule St. Anna in
Bonn, einer seinerzeit noch sehr beschaulichen Großstadt, plappern die Viertklässler aufgeregt durcheinander. „Sie verspätet sich nie!“ ruft jemand aus der hinteren Ecke des Klassenzimmers. „Vielleicht hat sie ja Grippe und liegt im Bett!“ kontert die ernsthafte Stimme von Markus, dem
Ruhigsten von uns. Dann hätten wir frei!“ kreischt Martina voller Vorfreude. „Woher willst du das wissen?“ Thomas, der immer auf alles eine Antwort zu haben scheint, dreht sich um. „Vorige Woche war Frl. Nachtigall krank und mit wem MUSSTEN wir singen? Mit Lehrer GRÜN!“ „Ich weiß, das ist dein Lieblingsfach, aber was hast du gegen Lehrer Grün?“, mischte ich mich unsachlich ein. Dass er nicht gut singen konnte, unterließ ich zu erwähnen und ergänzte stattdessen: „Er ist doch nett!“ „Die Anderen hatten zu tun und er hatte Zeit!“, pflichtete mir Andrea, meine Freundin, bei und schaute beleidigt auf, als ich sie sanft mit dem Ellenbogen in die Rippen stieß. Warum?, fragten ihre Augen. „Du machst dich unbeliebt, wenn du stets zeigst, dass du ein Lehrerkind bist“, flüsterte ich. „Aber es ist doch wahr! Mama hat gesagt …“ Weiter kam sie nicht, denn im gleichen Moment klopfte es laut genug, um unsere Unterhaltung zu übertönen, an die Klassentür und im nächsten trat, wie jetzt nicht anders zu erwarten, kein anderer herein als Lehrer Grün. Er grinste einmal in die Runde, nickte uns allen kurz zu und schritt, ohne ein Wort zu sagen, auf das Lehrerpult zu. Dort angekommen legte er in fast feierlicher Manier seine abgewetzte Ledertasche ab, ging um den Tisch herum, setzte sich auf dessen äußere rechte Kante und sah uns erwartungsvoll lächelnd an.
Das letzte Murmeln verstummte. „Guten Morgen Kinder!“ “GUTEN MORGEN HERR LEHRER GRÜN!“ tönte es fast gelangweilt im Kanon. „Ihr habt euch sicher schon gefragt, warum Frau Immerfelder noch nicht hier ist.“ Frau Immerfelder war unsere Klassenlehrerin und unterrichtete uns im Fach Deutsch. Wir nickten vereinzelt. “Frau Immerfelder liegt mit einer schweren Grippe zu Bett und wird diese und wohl auch die nächste Woche nicht kommen können. Rektor Glatter hat mich beauftragt ihre Vertretung für die Zeit zu übernehmen.“ „Puh …“ Lehrer Grün zog die linke Augenbraue hoch. „Möchtest du etwas sagen, Andreas?“ Andreas, dessen Lieblingsfach Deutsch war, lief rot an. „Äh, nein. Ich meine, das ist schade.“ Lehrer Grün schmunzelte. „Sicher ist es das. Aber ich hoffe, wir verbringen die Zeit zusammen sinnvoll. So, dass Frau Immerfelder richtig stolz auf uns sein wird, wenn sie wieder kommt. Was meinst du?“ Andreas kaute auf der Unterlippe, um sich kurz darauf zu mir umzudrehen. Im nächsten Moment raunte er, laut genug, dass alle – auch Lehrer Grün – es verstanden haben mussten: “Mensch! Sag du auch mal was!“ Andreas,
Manfred, Thomas und ich waren befreundet. Wie sehr und wie oft wir uns nach der Schule trafen, um zusammen zu spielen, wusste hier niemand, und für meine Begriffe sollte es auch weiterhin besser niemand wissen, auch meine Freundin Andrea nicht. Es „schickte“ sich
angeblich nämlich nicht, wenn Mädchen mit Jungs spielten. Allen Mut zusammennehmend und auch, weil ich meinen Freund nicht im Regen stehen lassen wollte, sagte ich leise: „Frau Immerfelder wollte uns durch die Adventzeit führen. Eine Geschichte erzählen. Dann sollte jeder von uns – wir sind ja 24 Kinder – einen „Baustein“ aus der Erzählung herausnehmen und am nächsten Tag seine Version von der Geschichte hier vortragen. Im vorigen Jahr wurde das auch so gemacht. Nur in diesem wird es nicht gehen. Sie ist ja jetzt krank und wir wissen nicht, welche Geschichte sie hat erzählen wollen.“ Bei den letzten Worten kämpfte ich gegen die Tränen an, die aufzusteigen drohten. Frau Immerfelder war meine Lieblingslehrerin. Deutsch mein Lieblingsfach. Ich wollte, dass sie stolz auf mich war und ich hatte Freude an allem, was sie unterrichtete. Lehrer Grün hatte ich auch gern, aber wie sollte sie stolz auf etwas sein, das wir nach seiner Anleitung taten? Lehrer Grün rutschte vom Pult. Im nächsten Augenblick stand er vor mir und hob mein Gesicht, indem er seine Hand sanft unter mein Kinn legte, etwas nach oben, so dass ich ihn ansehen musste. Besorgte Augen musterten mich „Mhm. Ich sehe schon, ein schwerer Fall.“ Dann ließ er mein Kinn los, verschränkte seine Arme auf dem Rücken und wanderte langsam wieder zurück in Richtung Tafel. Dort drehte sich um und fragte lächelnd: „Ihr habt sie wohl alle sehr gern?“ Ein bestätigendes Raunen kam zur Antwort. „Und ihr mögt das Fach?“ Jetzt nickte etwa die Hälfte der Klasse zustimmend. „Aber Geschichten, die mögt ihr doch wohl alle?“ „Ja! Ja! Ja!“ Das Echo kam von überall her. „Na dann lasst mich mal überlegen.“ Er kratzte sich hinter dem Ohr, tat nachdenklich, um dann überraschend schnell die Hand zu heben und mit nach oben gerichtetem Zeigefinger auszurufen: „Ich hab’s! DAS soll euere Aufgabe sein!“ Und er begann in seiner leisen und liebevollen Art, mit einer Stimme, die einem Märchenerzähler Konkurrenz gemacht hätte und mir heute noch in den Ohren liegt, die Geschichte vom Himmelszelt und ihren Sternen in einer Weise, die uns ausnahmslos in den Bann schlug.
„Jeden Abend, wenn der Mond seine Runden macht, in alle Fenster schaut, wo Menschen schlafen, begleitet ihn eine Herde von Sternen. Jeder einzelne davon erzählt dem Himmel seine ganz persönliche Geschichte. Die Sensation seiner Herkunft und den Weg, den der Stern auf seiner Reise um die Welt gemacht hat. Jede Geschichte davon ist anders, denn die Sterne sind so, wie wir Menschen. Sie haben Vorlieben, ziehen bestimmte Bahnen, um zu erforschen, weshalb was wie ist, und je länger sie unterwegs sind, desto mehr haben sie zu berichten. Von Irrungen und Wirrungen, von Umwegen, von Glücksfällen. Und so unterschiedlich sie alle auch sein mögen, in einem Punkt sind sie sich einig. Nichts auf dieser Welt scheint dem Zufall überlassen. Die Geburt ist Fügung, der weitere Weg Arbeit, vor allem am Glauben an sich selbst.
Wenn der letzte Stern seine Geschichte erzählt hat, beginnt der erste Stern von neuem, damit der Mond nicht einschläft und rechtzeitig die Sonne weckt. So gut gelaunt geweckt zu werden ist der Grund, warum wir Menschen sagen, dass die Sonne lacht. Und wisst ihr, was das Wichtigste an allem ist?“ Lehrer Grün schaute kurz auf zu unseren ausnahmslos offenen Mündern und fuhr nach einer kurzen Pause fort: „Kein Stern ist umsonst. Sterne haben Vorlieben, wie es heißt. So haben sie auch den einen oder anderen Menschen ganz besonders in ihr Herz geschlossen. Versuchen, ihn für sich zu gewinnen, von ihrem Ziel zu überzeugen. Da gibt es Sterne, die lieben die Sprache, andere, welche die Mathematik lieben, weitere begeistern sich für die Natur – Tiere und Pflanzen oder wieder andere für die Geschichte der Erde. Daneben gibt es auch noch komplizierte, die sich auf die Seele der Menschen spezialisiert haben oder solche, die gerne schreiben. „Dann ist ja Meiner auch dabei!“ schrie
Thorsten in die Stille. „Ja, mein Freund. Für jeden von uns gibt es einen ganz speziellen Stern. Es gilt, ihn zu finden heißt es, ihm zu folgen, an ihn zu glauben und niemals los zu lassen. Letzteres hätte Schlimmes zur Folge.“
„Was?“ DAS wollte ich jetzt genau wissen. „Der Mond würde einschlafen und die Geschichten nicht hören. Der Sonne beim Aufwecken nichts erzählen können. Sie hätte keinen Grund mehr zu scheinen – jedenfalls nicht mit aller Kraft, und die anderen Sterne würden vergessen, dass es weitere neben ihnen gibt. Sie würden aufhören zu strahlen, und der Himmel wäre nach kurzer Zeit schwarz.“ Die Schelle läutete den Schulschluss ein. Heute sprangen wir jedoch nicht, wie sonst üblich, sofort auf, um nach unseren Tornistern zu greifen und zum Kleiderhaken zu stürmen. Wir blieben sitzen und warteten, was Lehrer Grün noch zu sagen hatte.
„DAS ist die Geschichte Kinder. Fangt euch eueren ganz speziellen Stern und lasst ihn nie wieder los. Ich wünsche euch Glück. Bei der Suche und, wenn ihr ihn gefunden habt, auf dem Weg danach!“ „Werden Sie morgen wieder unseren Unterricht übernehmen?“, fragte Thomas schüchtern. “Vielleicht, wenn ich darf. Aber wenn, dann verspreche ich dir, darfst du vom Musikstern erzählen.“ Er zwinkerte ihm zu. In den folgenden zwei Wochen und vier Tagen erzählten wir uns gegenseitig von unseren Sternen und als Frau Immerfelder zurückkam, nahm sie den Unterrichtsstoff von Lehrer Grün begeistert auf. Ja, sie erzählte uns sogar von ihrem eigenen Stern, nannte ihn „Begleiter durch die Zeit“. Wir vermuteten, er hieß deshalb so, weil sie leidenschaftlich gerne reiste und an einer Buchreihe über ferne Länder schrieb. Weihnachten war längst vorbei und das neue Jahr bereits angebrochen, als sie uns eines Morgens erzählte, dass Lehrer Grün seinem Stern auf ewig gefolgt war.
Später hörten wir hingegen von anderen Leuten, dass er ihn eher verloren haben sollte, wenn man seinem Abschiedsbrief Glauben schenkte. Wie der Stern von Lehrer Grün geheißen hat, haben wir nie wirklich erfahren, aber die Tatsache, dass er uns von der Bedeutung vieler einzelner seinerzeit erzählt hat, scheint Beweis genug, dass er einem besonderen Himmelskörper gefolgt sein muss.
So mag es auch nicht verwundern, dass während diese Geschichte zu Papier kam, ich von dem Gefühl geleitet wurde, dass eben dieser Stern von Lehrer Grün zusammen mit meinem eigenen ganz hell leuchtete …
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